Als Ernst Busch sang

von Tamara Nikitina (1957)

„Ich lerne nicht Deutsch!“ sagte
Ein Schulfreund mir einmal. Kalt
war sein Blick. Und seine Hand
Hat sich zur Faust geballt.

Ich weiß: er hat nicht an die Mühe
des Lernens gedacht.
Er dachte an seine Mutter.
Die hatten Deutsche umgebracht.

Auch ich erinnere mich immer
An das Heulen der Messerschmitt,
Die Hungernächte, die Ängste
Die jeder von uns durchlitt.

Aber nicht die Sprache entscheidet,
Auf welcher Seite man steht.
Mit dem Wind, der feindlich umschlug,
Hat sich schon mancher gedreht.

Das Dorf war besetzt. Da nähte
Jemand im Nachbarhaus
Auf unsre Fahne die Spinne,
Hängte das Hakenkreuz hinaus.

Was uns verriet und bedrohte,
Was das Sowjethaus durchschlich,
Sprach damals unsre Sprache,
Sprach Russisch wie du und ich.

Aber in seiner Zelle
Lag zur gleichen Zeit
Ernst Busch mit seinesgleichen
Ungebrochen, kampfbereit.

Deutsche starben neben Unsern
In Spanien von Mördern umringt.
Du liebtest die deutsche Sprache,
Hörtest du, wie Ernst Busch sie singt.

Reiß nieder, was dir den Blick auf
Die einfache Wahrheit verstellt:
Nicht Sprachen – Taten scheiden
Die neue von der alten Welt.

Zeitgenössische Nachdichtung zitiert nach Unterlagen im EBA im Archiv der Akademie der Künste. Originalgedicht in russischer Sprache erschienen in der Prawda v. 27. Juli 1957. Vgl. ЗДЕСЬ ДЕЛО НЕ В ЯЗЫКЕ. Die wörtliche Übersetzung (unten) aus dem Jahr 2006 stammt von Katja Tewes.

ES GEHT NICHT UM DIE SPRACHE
(von Tamara Nikitina)

– Ich werde kein Deutsch lernen, –
sagte
mein Schulfreund einmal.
Wie kalt blitzen seine Augen dabei,
Wie ballte er seine Faust zusammen.
Ich weiß, es ging ihm nicht um die Mühe.
Als er sich weigerte,
Erinnerte er sich bestimmt an die kalte
Blockade-Nacht,
An die von Nazis ermordete Mutter.

Mir war, als ob ich ein entferntes Stöhnen hörte,
Das Dröhnen einer Junker,
das Pfeifen der Flügel.
Vor meinen Augen zog,
wie ein Traum,
das Leid, das ich gesehen.

Genosse, es geht nicht um die Sprache,
Aber lass uns später darauf zurückkommen…
Und vorerst erinnere dich:
Im Dorf waren Deutsche,
und ein Lakai
nähte die Spinne auf die Fahne.
Er kroch, wie eine Schlange, in unser
sowjetisches Haus hinein.
Er lebte und verriet immer wieder,
Und er sprach Russisch,
die Sprache,
In der du ausgezeichnete Noten hast.

Und zur gleichen Zeit woanders, hinter den Gittern
eines Nazi-Gefängnisses,
Unter anderen ungehorsamen Seelen,
Rang für die Freiheit,
genau wie wir,
der gefolterte Ernst Busch.

Ich weiß, Du würdest diese Sprache lieb gewinnen,
Wenn du gehört hättest, wie er sang.
Der Deutsche wurde, an den spanischen
Gräbern entlang,
zum Erschießen zusammen mit deinem Bruder geführt.

Lerne nun aus Büchern und
Herzen,
Was die Vergangenheit verbirgt.
Dann wirst du selbst sehen,
Wer die Welt mit Finsternis bedroht.

Die Taten, nicht die Sprache, unterscheiden die Menschen. –
Bakterien,
Blut,
der Krieg.
Und zweifle nicht,
sie werden vor ihren Völkern
Rechenschaft ablegen müssen.

(«Prawda», 27.07.1957, N. 175)

„Am 1. August kommt die Komsomolzin
Tamara Nikitina mit der Gruppe
aus Leningrad zu den VI. Weltfestspielen
nach Moskau. Vor dem Zweiten Weltkrieg
besuchte sie das Dichterstudio
im Palast der Pioniere. Vor kurzem
wurden ihre an das 2. Leningrader
Festival geschickten Gedichte
mit dem ersten Preis ausgezeichnet.“