Gebet für die Gefangenen
Text: Kurt Tucholsky / Musik: Hanns Eisler
1924
Herrgott!
Wenn du zufällig Zeit hast, dich zwischen zwei Börsenbaisser
Und einer dämlichen Feldschlacht in Marokko auch einmal
Um die Armen zu kümmern:
Hörst du siebentausend Kommunisten in deutschen
Gefängnissen wimmern?
Kyrie eleison – !
Da sind arme Jungen darunter, die sind so mitgelaufen,
Und nun sind sie den Richtern in die Finger gefallen;
Auf sie ist der Polizeiknüppel niedergesaust,
Der da ewiglich hängt über uns allen…
Kyrie eleison – !
Da sind aber auch alte Kerls dabei, die hatten Überzeugung,
Herz und Mut –
Das ist aber vor diesen Richtern nicht beliebt,
Und das bekam ihnen nicht gut…
Kyrie eleison – !
Da haben auch manche geglaubt, eine Republik zu
Schützen – aber die hat das gar nicht gewollt.
Fritz Ebert hat vor seinen Freunden viel mehr Angst
Als vor seinen Feinden – in diesem Sinne: Schwarz-Rot-Gold!
Kyrie eleison – !
Herrgott! Sie sitzen seit Jahren in kleinen Stuben
Und sind krank, blaß und ohne Fraun;
Sie werden von Herrn Aufseher Maschke schikaniert und
Angebrüllt, in den Keller geschickt und mitunter verhaun…
Kyrie eleison – !
Manche haben eine Spinne, die ist ihr Freund;
Viele sind verzankt, alle verzweifelt und sehnsuchtskrank –
Ein Tag, du Gütiger, ist mitunter tausend Jahre lang!
Kyrie eleison – !
Vielleicht hast du die Freundlichkeit und guckst einmal
Ins neue Testament?
Bei uns lesen das die Pastoren, aber nur sonntags -,
In der Woche regiert das Strafgesetzbuch und der
Landgerichtspräsident.
… eleison – !
Weißt du vielleicht, lieber Gott, warum diese Siebentausend
In deutsche Gefängnisse kamen?
Ich weiß es. Aber ich sags nicht. Du kannst dirs ja denken.
Amen.
Text: Kurt Tucholsky
Musik: Hanns Eisler
Zitiert nach Ernst Busch: Es kommt der Tag. Rote Reihe 8 auf Aurora-Schallplatten (Au 585 046/047), hrsg. 1974.