Anrede an ein neugeborenes Kind

Text: Walter Mehring / Musik: Hanns Eisler

Ääh! Ääh! Ääh!
Hören Sie? Hörten Sie? Wie es schrie?
Es weiß noch nicht, was seiner wartet
Wenn es zum großen Lebenslaufe startet.
Doch sein Signal, daß es geboren sei –
Das ist der Schrei!

Ääh! Ääh! Ääh!
Still! Still, mein Kind!
Das erste, was du lernen mußt
Sei dir bewußt –
Du bist auf dieser Erde nicht allein.
So wichtig du dir scheinst
So kläglich du auch greinst
Es sind noch andre da, die noch viel lauter schrein!

Ääh! Ääh! Ääh!
Still! Still, mein Kind!
Das zweite, was du lernen mußt
Sei dir bewußt –
Das ist der Name, den sie dir verleihn.
Die ganze Umwelt paßt
Ob er geliebt, verhaßt
Was du auch tust, sie werden deinen Namen schrein.

Ääh! Ääh! Ääh!
Hören Sie? Hörten Sie? Wie es schrie?
Es ahnt noch nicht, was seiner harrt auf Erden.
Es kann Minister, Doktor, Seemann werden.
Doch sein Beweis, daß es geboren sei –
Das ist der Schrei!

Ääh! Ääh! Ääh!
Still! Still, mein Kind!
Das allerletzte, was du lernst
Das ist der Ernst
Des Lebens und die Weisheit, still zu sein.
Worüber man auch klagt
Ist tausendmal gesagt
Es hört dir keiner zu, weil alle, alle schrein!

Ääh! Ääh! Ääh!
Schrei! Schrei, mein Kind!
Ja, schrei aus Leibeskräften nur!
Dies sei dein Schwur:
Daß du dir selbst dein Schicksal mitbestimmst.
Wenn alles schreit
Steh nicht beiseit
Daß du den Platz, der dir zukommt, im Sturme nimmst!
Ääh! Ääh! Ääh!

Text: Walter Mehring
Musik: Hanns Eisler

Zitiert nach Ernst Busch: Walter Mehring, Das Lied vom Leben. Rote Reihe 9 auf Aurora-Schallplatten (Au 5 80 048), hrsg. 1974.