Erfragte und erzählte Geschichte
Interviews mit Zeitzeugen: Grundlagen der Oral History
Zum Stand einer Forschungstechnik
Das „mündliche Weitergeben von Geschichte“ ist keine neuartige Erfindung. Im Gegenteil: Es ist die älteste Darstellungsform von Geschichte überhaupt. Relativ neu ist allerdings die Praxis, im Rahmen historischer Forschung ältere Menschen systematisch dazu aufzufordern, ihre Erinnerungen an bestimmte Personen oder Ereignisse zu erzählen. Das Planen, Durchführen und Auswerten solcher Zeitzeugen-Interviews – dies sind die Bestandteile der als „Oral History“ bekannten und seit den 1960er Jahren praktizierten Forschungstechnik. Sie wird von Historikern genutzt, von Ethnologen, Musikwissenschaftlern, Soziologen und anderen Fachleuten, aber auch von Geschichtswerkstätten, Stadtteilinitiativen und anderen Interessierten.
„Oral History“ ist im Deutschen ein Verlegenheitsbegriff – allerdings einer, der sich weitgehend durchgesetzt hat. Als in etwa deckungsgleich gelten „Erinnerte Geschichte“ und – so lautet auch der Untertitel eines Buchs zum Thema – „Mündlich erfragte Geschichte“. Eine allgemein anerkannte Definition dieser Begriffe gibt es nicht. Oral History sagt zunächst nur etwas über die Methode, mit der Geschichte erforscht werden soll: nämlich im Gespräch. Über den Zweck der Forschung ist damit noch nichts gesagt.
Freilich haben wir es uns angewöhnt, mit Oral History ein gewisses Partei-Ergreifen für die „kleinen Leute“ zu assoziieren. Ihr haftet das Image einer demokratischen oder linken Forschungsmethode an (obgleich die Oral History ursprünglich in den USA für die Elitenbiografik eingesetzt wurde). „Alltagsgeschichte“ bzw. „Geschichte von unten“, so die Schlagworte, sollten mit ihrer Hilfe anschaulich dargestellt werden. Zum Teil funktionierte das auch, insbesondere in der angloamerikanischen Literatur finden sich zahlreiche gelungene Beispiele. Allerdings gab und gibt es immer noch kritische Einwände gegen die insbesondere in den 70er und 80er Jahren häufig angewandte Forschungstechnik: Interviews mit Zeitzeugen seien gar keine „echten“ Quellen, sondern nachträgliche Interpretationen. Im Übrigen könne ein Interview, das 2011 über Ereignisse des Jahres 1950 geführt werde, wenig über 1950 sagen, aber sehr viel über 2011. Man habe es hier mit wenig Erinnerung und viel Rekonstruktion zu tun – ganz ähnlich wie bei Memoiren. Richtig ist, dass man sich als Forscher über diese Problematik klar sein muss: Historische Interviews sind Kommunikationsprodukte, die durch die Perspektiven beider Interviewteilnehmer geformt werden, also gewissermaßen in Teamwork hergestellte Quellen. Wenn der Interviewer / die Interviewerin behut- und aufmerksam vorgeht, können so – eine kritische Prüfung des gesprochenen Wortes vorausgesetzt – Ergebnisse erzielt werden, die eine sinnvolle Ergänzung zu aus herkömmlichen Quellen gewonnenen Einsichten darstellen und die zu beachtlichem Erkenntnisgewinn führen.
Wer Zeitzeugen im Rahmen eines Forschungsprojekts interviewt, übernimmt Verantwortung – in zweifacher Hinsicht: einmal gegenüber der Person, und dann gegenüber dem Material. Er sollte sich einerseits der gesellschaftspolitischen (im nicht anzustrebenden Extremfall: mitunter therapeutischen) Bedeutung der Gesprächssituation bewusst sein. Der direkte Kontakt zu älteren (vielleicht einsamen) Menschen erfordert mehr Fingerspitzengefühl als Archivarbeit. Andrerseits muss er mit dem gewonnenen Material professionell und unsentimental umgehen, d.h. es ist nicht für den Hausgebrauch bestimmt, sondern zur Veröffentlichung – in welcher Form auch immer. Mit einer Transkription ist es nicht getan: Interessante Aussagen müssen im Rahmen einer Publikation in größere Zusammenhänge eingeordnet, kenntnisreich interpretiert und auf diese Weise erneut zum Sprechen gebracht werden.
Praktische Hinweise für historische Interviews =
qualitative lebensgeschichtliche Interviews
a) Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?
- möglichst genaue Festlegung des Oberthemas des Oral History-Projekts
- umfangreiches Vorwissen über das Thema (Literatur u. Quellen!)
- Klarheit über den Zweck des Projekts
b) Wie gestaltet sich der erste Kontakt zu den Zeitzeugen?
- Aufrufe in der lokalen Presse
- Anfragen bei Vereinen, politischen Organisationen u. anderen (themennahen) Institutionen
- Anfragen bei Zeitzeugenbörsen
- Kontakt durch sog. „Mittler-„ oder „Brückenfiguren“ o. direkt durch Brief bzw. Telefon
- evtl. Vorgespräch mit der Person führen (so schafft man Vertrauen und kann nützliches Vorwissen über den Gesprächspartner / die Gesprächspartnerin erwerben)
c) Welche Hilfsmittel und Medien sind erforderlich?
- professionelles Aufnahmegerät mit externem Mikro und manueller Steuerung d. Lautstärke; der Recorder sollte auch unabhängig v. Netz betrieben werden können (frische Batterien!)
- evtl. zusätzlich Fotoapparat oder Videokamera (dann aber mit Kameramann bzw. –frau)
- vorher notierte Leitfragen, die vom Themenschwerpunkt abhängen und z.B. biografische Daten, soziale Herkunft oder politisches Engagement der Person betreffen
- evtl. Werkstatt-Tagebuch, in d. unmittelbar nach d. Gespräch Eindrücke festgehalten werden
d) Was ist bei der Durchführung des Interviews zu beachten?
- hinsichtlich Ort und Zeit: Rücksicht nehmen auf Alltagsgewohnheiten der Person
- zu Beginn: Informieren ü. d. Zweck des Interviews und Hinweisen auf das Aufnahmegerät
- evtl. Interview-Buch führen, d.h. Strukturieren des Gesprächs durch Notizen mit Hilfe des Zählwerks am Recorder
- mit möglichst unproblematischen Fragen anfangen; falls es sich nicht um eine bekannte Person der Zeitgeschichte handelt, können z.B. zunächst biografische Daten und soziale Herkunft geklärt werden
- die Person nicht durch ein starres Fragekorsett einengen; ggf. Fragen spontan modifizieren
- die Leitfragen helfen, eine „Erinnerungsstruktur“ entstehen zu lassen (die selten linear, eher spiralförmig kreisend ist, sodass man auf bestimmte Punkte wieder zurückkommen kann)
- eigene Meinung sparsam einfließen lassen: ein Interview ist keine Disskussion!
- bei emotional aufgeladenen Themen sind Takt und Anteilnahme selbstverständlich
- alte Fotos u. andere Materialien können der Erinnerung auf die Sprünge helfen
- evtl. nehmen unerwartet weitere Personen (z.B. Ehepartner) am Gespräch teil: Hier ist eine gewisse Vorsicht geboten!
e) Wie wird das Interview ausgewertet?
- Gefahr des Sammelns: Kassetten oder Mini-Discs vergammeln ungehört in irgendeiner Ecke
- Text unbedingt sichern u. transkribieren (allerdings heißt Transkription auch Reduktion)
- beim Verschriftlichen auf jeder Seite den Stand des Zählwerks notieren
- am Rand jeder Seite Stichworte zum Inhalt machen, um bestimmte Stellen besser auffinden zu können
- Abgleichen der im Gespräch erwähnten (strittigen) Fakten mit anderen Quellen
- evtl. Mehrfach-Interview erforderlich, wenn beim Transkribieren weitere Fragen auftauchen
- das erhobene Material für die Forschung nutzen, bearbeiten und wenn möglich publizieren
- den Zeitzeugen Rückmeldung geben, was aus dem Oral-History-Projekt geworden ist
Literatur zum Thema:
GRAF, WERNER: Das Schreibproblem der Oral History. In: Literatur & Erfahrung, Heft 10: Oral History – Geschichte von unten. Berlin 1982, S. 100-105.
HOWARTH, KEN: Oral History. Stroud (GB) 1999.
NIETHAMMER, LUTZ (Hrsg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“. Frankfurt am Main 1985. Thompson, Paul: The Voice of the Past. Oral History. Oxford (GB) u.a. 1978.
VORLÄNDER, HERWART (Hrsg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte. Acht Beiträge. Göttingen 1990.