Erich Kästner liest Kästner

Epigramme, zusammengestellt von Ernst Busch

WAS AUCH GESCHIEHT!

Was auch immer geschieht:
Nie dürft ihr so tief sinken,
von dem Kakao, durch den man euch zieht,
auch noch zu trinken!

SOKRATES ZUGEEIGNET

Es ist schon so: Die Fragen sind es,
aus denen das, was bleibt, entsteht.
Denkt an die Frage jenes Kindes:
„Was tut der Wind, wenn er nicht weht?“

EINE FESTSTELLUNG

Wir haben’s schwer.
Denn wir wissen nur ungefähr,
woher,
jedoch die Frommen
wissen gar, wohin wir kommen!
Wer glaubt, weiß mehr.

DER SCHÖPFERISCHE IRRTUM

Irrtümer haben ihren Wert;
jedoch nur hie und da.
Nicht jeder, der nach Indien fährt,
entdeckt Amerika.

IN MEMORIAM MEMORIAE

Die Erinn’rung ist eine mysteriöse
Macht und bildet die Menschen um.
Wer das, was schön war, vergißt, wird böse.
Wer das, was schlimm war, vergißt, wird dumm.

DIE UNZUFRIEDENE STRASSENBAHN

Sie haßte die gewohnte Strecke,
sprang aus dem Schienenstrang heraus
und wollte endlich einmal gradeaus,
statt um die Ecke.

Ein Unglück gab’s. Und keine Reise.
Erinnert euch, bis ihr es wißt:
Wenn man als Straßenbahn geboren ist,
dann braucht man Gleise.

REDEN IST SILBER

Lernt, daß man still sein soll,
wenn man im Herzen Groll hat.
Man nimmt den Mund nicht voll,
wenn man die Schnauze voll hat.

DEFINITION DES RUHMS
Aus dem Französischen

Worin besteht der Ruhm auf Erden,
der die Wenigen von den Vielen trennt?
Von lauter Leuten gekannt zu werden,
die man selber gar nicht kennt.

DAMENTOAST IM OBSTGARTEN

Casanova sprach lächelnd zu seinen Gästen:
„Mit den Frauen ist es,
ich hoffe, ihr wißt es,
wie mit den Äpfeln rings an den Ästen.
Die schönsten schmecken nicht immer am besten.“

MORAL

Es gibt nichts Gutes
außer: Man tut es.

CONDITIO SINE QUA NON

Seufzend schreibt ihr der Poet:
„Bist du heute guter Dinge?
Wenn ich wüßte , wie’s dir ginge,
wüßte ich, wie mir es geht.“

DIE JUNGE DAME VORM SARGGESCHÄFT

Täglich seh ich sie dort stehenbleiben
und gebannt in jene Scheiben starren,
hinter denen, unser Tun und Treiben
nicht beachtend, Särge auf uns harren.

Täglich seh ich, wie ihr Auge blitzt,
wenn sie in die Fenster blickt.
Was stimmt sie heiter?
Ach, sie prüft nur, ob ihr Häubchen sitzt.
Nichts weiter.

GEHUPFT WIE GESPRUNGEN
Aus den „Lehrsätzen des armen Mannes“

Ob vom Kölner Dom, ob vom Zirkuszelt,
ob vom Dach einer Dampfwäscherei –
für den Arbeiter, der herunterfällt,
ist das völlig einerlei.

ALS DIE SYNAGOGEN BRANNTEN

Der junge SA-Mann:
Wo steckt Jehova nun, der nie verzeiht?
Ist er, Adresse unbekannt, verzogen?

Der alte Jude:
Gibt’s einen Gott, gibt’s auch Gerechtigkeit.
Wenn’s keinen gibt, was braucht es Synagogen?

DIE KOPFLOSE STECKNADEL

Köpfe abschlagen ist nicht sehr klug.
Eine Stecknadel, der man den Kopf abschlug,
fand, der Kopf sei völlig entbehrlich
und war nun vorn und hinter gefährlich.

ZUM NEUEN JAHR

„Wird’s besser? Wird’s schlimmer?“
fragt man alljährlich.
Seien wir ehrlich:
Leben ist immer
lebensgefährlich.

AUCH EINE AUSKUNFT

Ein Mann, von dem ich wissen wollte,
warum die Menschen einander betrügen,
sprach: „Wenn ich die Wahrheit sagen sollte,
müßt’ ich lügen.“

MITLEID MIT PERSPEKTIVE
oder Die Ansichten eines Baumes

Hier, wo ich stehe, sind wir Bäume,
die Straße und die Zwischenräume
so unvergleichlich groß und breit.
Mein Gott, mir tun die kleinen Bäume
am Ende der Allee entsetzlich leid!

ÜBER GEWISSE SCHRIFTSTELLER

Sie fahren das Erlebte und Erlernte
nicht in die Scheuern ein und nicht zur Mühle.
Sie zeigen ihre Felder statt der Ernte,
die noch am Halme wogenden Gefühle,
und sagen zu den Lesern stolz und fest:
„Das wär’s – nun freßt!“

MUT ZUR TRAUER

Sei traurig, wenn du traurig bist,
und steh nicht stets vor deiner Seele Posten!
Den Kopf, der dir ans Herz gewachsen ist,
wird’s schon nicht kosten.

DER HUMOR
Aus der großdeutschen Kunstlehre

Der Humor ist der Regenschirm der Weisen
und insofern unsoldatisch.
Daß wir ihn trotzdem öffentlich preisen,
scheint problematisch.
In praxi ist’s gleichgültig, was wir meinen.

Denn wir haben ja keinen.

KOPERNIKANISCHE CHARAKTERE GESUCHT

Wenn der Mensch aufrichtig bedächte:
daß sich die Erde atemlos dreht;
daß er die Tage, daß er die Nächte
auf einer tanzenden Kugel steht;
daß er die Hälfte des Lebens gar
mit dem Kopf nach unten im Weltall hängt,
indes sich der Globus, berechenbar,
in den ewigen Reigen der Sterne mengt, –
wenn das der Mensch von Herzen bedächte,
dann würd’ er so, wie Kästner werden möchte.

Zitiert nach Ernst Busch: Ernst Busch singt und spricht – Erich Kästner liest Kästner. Aurora 5 80 035/36. Hrsg. 1969, Nachauflagen 1972 und 1974.

Weitere Kästner-Texte finden sich unter der Rubrik Lieder A-Z.