Erinnerung an die Marie A.

Text: Bertolt Brecht; Musik: Bertolt Brecht / Franz S. Bruinier

An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.

Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

 

Text: Bertolt Brecht
Musik: Bertolt Brecht / Franz S. Bruinier

Zitiert nach Ernst Busch: bertolt brecht – Legenden, Lieder Balladen 1914-1924. Aurora 5 80 025/26. Erstmals erschienen 1967.

Bertolt Brecht moderiert das Lied (vermutlich in einem Entwurf für eine Rundfunksendung) folgendermaßen an: ”Ernst Busch singt das Lied ’Erinnerung an die Marie A’ aus der ’Hauspostille’. Es ist geschrieben auf die Melodie eines Dienstmädchenlieds ’So oft der Frühling durch das offene Fenster am Sonntagmorgen hat uns angelacht’” (zit. n. einem Tonband im Busch-Nachlass).